Erdbebenertüchtigung: Lastpfade, Duktilität und wirtschaftliche Eingriffe im Bestand

Die Erdbebenertüchtigung von Bestandsbauten ist eine technische und wirtschaftliche Herausforderung. Lastpfade, Duktilität und gezielte Eingriffe entscheiden über Sicherheit und Kosten.

In der Schweiz gelten seit 2003 verbindliche Erdbebennormen für Neubauten. Doch der Grossteil des Gebäudebestandes entstand davor und weist erhebliche Defizite im Erdbebenwiderstand auf. Um Risiken zu reduzieren, werden zunehmend bestehende Gebäude nachgerüstet. Ziel ist es, die Tragfähigkeit zu sichern, Schäden zu begrenzen und Leben zu schützen – ohne dabei die Wirtschaftlichkeit aus dem Blick zu verlieren.

Lastpfade als zentrales Prinzip



Ein Grundprinzip der Erdbebenertüchtigung ist die Sicherstellung klarer und kontinuierlicher Lastpfade. Nur wenn Kräfte aus einem Erdbeben gezielt und ohne Unterbrechungen abgeleitet werden, kann ein Gebäude standhalten.

Typische Massnahmen sind:

  • Verstärkung von Decken und Scheiben, um horizontale Lasten gleichmässig zu verteilen
  • Nachrüstung von Wänden oder Rahmen zur Erhöhung der Aussteifung
  • Einbau von Stahlbetonstützen oder Stahlrahmen zur Lastableitung
  • Verbindung von Decken und Wänden für geschlossene Lastpfade

Eine sorgfältige Analyse der vorhandenen Struktur ist zwingend, da fehlgeleitete Lasten erhebliche Schäden verursachen können.


Tipp: Lastpfade sollten möglichst direkt geführt werden – Umleitungen erhöhen die Gefahr lokaler Überlastungen.

Duktilität als Sicherheitsfaktor

Neben den Lastpfaden spielt die Duktilität eine entscheidende Rolle. Duktilität beschreibt die Fähigkeit eines Bauteils, sich unter Belastung zu verformen, ohne spröde zu versagen.

Nachrüstungen zielen deshalb darauf ab, Bauteile so auszubilden, dass sie im Erdbeben kontrolliert Energie aufnehmen können. Dies erfolgt durch:

  • Verwendung duktiler Materialien wie Stahl oder faserverstärkter Beton
  • Gezielte Verstärkungen von Knotenpunkten in Rahmenstrukturen
  • Einbau von Schubverstärkungen zur Vermeidung spröder Brüche
  • Anpassung der Bewehrung für bessere Verformungsfähigkeit

So lassen sich Schäden steuern und ein plötzlicher Einsturz verhindern.


Tipp: Ertüchtigungsmassnahmen sollten darauf abzielen, das globale Tragwerk duktiler zu machen, nicht nur einzelne Bauteile.

Wirtschaftliche Eingriffe im Bestand

Eine Erdbebenertüchtigung muss technisch wirksam, aber auch wirtschaftlich tragbar sein. Da die Kosten schnell hoch werden, sind abgestufte Massnahmen sinnvoll.



Möglichkeiten:

  • Lokale Verstärkungen an kritischen Schwachstellen wie Stützen oder Knoten
  • Zusatzmassnahmen an Decken und Fundamenten für bessere Lastverteilung
  • Kombination mit ohnehin anstehenden Sanierungen oder Umbauten
  • Priorisierung nach Gefährdung, Nutzung und baulichem Zustand

Digitale Simulationen ermöglichen es, Varianten zu vergleichen und Kosten-Nutzen-Aspekte transparent zu bewerten. Oft lassen sich schon mit gezielten Eingriffen grosse Verbesserungen erzielen.

Moderne Techniken

Neue Technologien erweitern die Möglichkeiten der Erdbebenertüchtigung. Dazu zählen:

  • CFK- und GFK-Lamellen zur Verstärkung von Betonbauteilen
  • Faserverbundwerkstoffe für leichte, hochfeste Sanierungen
  • Dämpfungssysteme, die Schwingungen reduzieren
  • Seismische Isolation, die Gebäude von Bodenschwingungen entkoppelt

Solche Systeme sind besonders für kritische Infrastrukturen oder wertvolle historische Bauwerke relevant.


Tipp: Für denkmalgeschützte Bauten eignen sich reversible und kaum sichtbare Ertüchtigungen mit Faserverbundstoffen.

Fazit

Die Erdbebenertüchtigung im Bestand ist ein Balanceakt zwischen technischer Notwendigkeit und wirtschaftlicher Machbarkeit. Klare Lastpfade, erhöhte Duktilität und gezielte Eingriffe sichern den Erhalt und die Nutzung bestehender Gebäude. Moderne Werkstoffe und digitale Methoden eröffnen zusätzliche Möglichkeiten. Damit wird die Ertüchtigung zu einem zentralen Baustein der Bauwerksstrategie – für mehr Sicherheit und eine nachhaltige Nutzung des Bestands.

 

Quelle: bauenaktuell.ch-Redaktion
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