Arno Schlüter über nachhaltige Architektur: Entwerfen mit Verantwortung und Vision

Bild: ETH-Professor Arno Schlüter: „Nachhaltigkeit wird oft eindimensional mit Verzicht verbunden. Die Frage sollte vielmehr sein: Was ist die Chance dieser Aufgabe, wie sieht ein positives Danach aus?“

ETH-Professor und Architekt Arno Schlüter über nachhaltiges Bauen, neue Ästhetik und die Rolle der Lehre. Und warum eine klimafreundliche Lösung beim Entwurf beginnt.

Arno Schlüter, was ist ein guter Entwurf?
Ein guter Entwurf wird den unterschiedlichsten Anforderungen einer Bauaufgabe gerecht. Diese können sehr komplex und mitunter auch diffus sein – da spielen die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer, funktionale und baukulturelle Aspekte und immer stärker Fragen der Nachhaltigkeit eine Rolle. Am Ende geht es darum, eine Bauaufgabe zu interpretieren und eine überzeugende Lösung vorzuschlagen, die alle Beteiligten mit ins Boot holt: die Bauherrschaft, die Stadt, die Gesellschaft. Das Faszinierende daran ist, dass es für ein und dieselbe Aufgabenstellung nie nur eine Lösung gibt.

Nachhaltigkeit wird also immer wichtiger.
Es ist notwendig, dass sie von Anfang an mitgedacht wird. Eine nachhaltige Lösung beginnt beim Entwurf: Position und Form eines Gebäudes, sein Umfeld, welche Materialien verwendet werden, welche erneuerbare Energiequellen zur Verfügung stehen. Ganz grundsätzliche Fragen des Bauens ändern sich gerade drastisch: Sollen wir überhaupt bauen? Sollte man nicht bestehende Gebäude verändern, verdichten und wieder nutzen? Wenn man mit dem baut, was schon vorhanden ist, dreht sich der Entwurfsprozess um. Dann steht mir am Anfang eine Art Bibliothek an Materialien zur Verfügung, und meine Aufgabe besteht darin, diese zusammenzubringen.

Dann brauchen Sie als Architekt aber andere Kompetenzen als bisher?
Ja, ich muss in der Lage sein, die verschiedenen Abhängigkeiten zu erkennen und sie produktiv im Entwurf einzusetzen. Für das Weiterverwenden von Gebäuden und Materialien muss ich zum Beispiel Prozesse und Logistik verstehen. Wann stehen welche Materialien zur Verfügung? Das macht es noch anspruchsvoller, die Dinge zu einem guten Ganzen zusammenzubringen.

Wie lassen Sie dies in die Lehre einfliessen?
Wir wollen die Perspektive auf Klima, Nachhaltigkeit und Energie von Anfang an in der Lehre verankern. Die Studierenden sollen so selbstverständlich über diese Themen reden können, wie sie das über den Städtebau oder die Materialien tun. Sie sollen eine Intuition für das Klima entwickeln, und ich möchte vom ersten Semester bis zum Master mithelfen, diese Intuition aufzubauen.

Intuition ist sehr abstrakt. Wie lehren Sie sie?
Intuition entsteht durch Erfahrung. Dafür müssen die Studierenden so oft üben, bis sie verinnerlicht haben, welche Auswirkungen gewisse Veränderungen auf ihr Gesamtergebnis haben. Ab diesem Herbstsemester wollen wir mit dem neuen Format „Studio Foundations“ den Bachelorstudierenden in einem Kollektiv aus insgesamt acht Professuren eine interdisziplinäre Perspektive auf das architektonische Entwerfen geben. Im Masterstudium drehen wir mit dem Lehrformat „Design for Climate“ den Prozess des Bauens bewusst um: Wir geben den Studierenden Werkzeuge in die Hand, mit denen sie die ökologische Nachhaltigkeit iterativ im Entwurf umsetzen können. Mit diesem Wissen können sie dann konkrete Lösungen für Gebäude entwickeln und lernen, welche Konsequenzen ihre Entwurfsentscheidungen haben.

Sie selbst sind in Architektur, in Computational Design und im Bereich Gebäudesysteme ausgebildet. Wie beeinflusst Sie dies heute?
Mich interessiert das Bauen nach wie vor aus einer architektonischen Sicht. Am Ende geht es mir darum, unser Wissen über lebenswerte Räume und wie diese nachhaltig realisiert werden können, zu erweitern. Als Ergänzung zur Architektur haben mich die Ingenieurwissenschaften besonders interessiert, weil sie sehr analytisch und methodisch vorgehen. Ich habe für mich versucht, diese qualitativen und quantitativen Aspekte zusammenzubringen. Das ist auch das, was ich den Studierenden mitgeben möchte. Sie sollen beide Welten kennen, um am Schluss ein besseres Ganzes zu produzieren.

Sie sind auch Spin-off-Gründer. Möchten Sie das Unternehmertum den Studierenden mitgeben?
Ich unterstütze es sehr, wenn aus meiner Gruppe ein Unternehmen entsteht. Allerdings ist es nicht einfach, im Bereich Bauen ein Spin-off zu gründen. Innovation bedeutet immer, Dinge anders zu machen. Weil im Bauen immer viele Akteure involviert sind, betrifft das viele Leute und kann daher schwierig sein oder sogar Widerstand erzeugen. Und trotzdem versuchen wir, zum Beispiel in Reallaboren, neue Ansätze und Technologien zu testen und zu präsentieren. Im besten Fall erzeugt dies so viel Interesse, dass unsere Forschenden den Schritt ins Unternehmertum wagen.

Kann ein Reallabor wie das NEST-Gebäude in Dübendorf diesen Prozess beschleunigen?
Solche „Living Labs“ fördern den Austausch mit der Gesellschaft und zeigen eine grosse Aussenwirkung, auch auf internationaler Ebene. Reallabore schlagen eine wichtige Brücke zwischen Forschung und Umsetzung. Sie ergänzen die anderen beiden Forschungsebenen: die theoretische, mit mathematischen Modellen und Simulationen, und das Labor, wo wir physisch-experimentell testen.

Im NEST befindet sich auch die von Ihnen entwickelte Solarfassade. Steht die Energiefrage beim Thema Nachhaltigkeit immer im Zentrum?
Für uns schon: Energie betrifft alle Prozesse und Dimensionen des Bauens – vom Innenraumklima, der Produktion von Baumaterialien, über den Betrieb eines Gebäudes bis zur Produktion von Energie am Gebäude, zum Beispiel durch Solarzellen. Alle diese Prozesse beeinflussen die Emissionen eines Gebäudes und sind damit klimarelevant, aber die Energie steht immer an erster Stelle.

Ist Ihr eigenes Zuhause auch eine Art Reallabor?
Ich wohne mit meiner Familie in einer Mietwohnung in der Stadt, da bin ich etwas eingeschränkt. Mein eigenes kleines Reallabor ist ein 120 Jahre altes, einfaches Holzhaus in den Bergen. Den Unterschied der Bauweisen und der Komfortansprüche der Bewohner damals und heute zu erleben und dessen Transformation zu gestalten, ist sehr bereichernd.


Zur Person
Arno Schlüter ist Professor für Architektur und Gebäudesysteme am Departement Architektur der ETH Zürich.

Umbauen statt neu bauen, Materialien wiederverwenden. Ist das heute schon Realität?
Es ist sicher noch nicht Usus, aber aktuell wird viel dazu geforscht und es laufen spannende Experimente. Es gibt auch schon erste Gebäude in der Schweiz, bei denen möglichst viele Bauteile wiederverwendet wurden. Die grosse Frage bei solchen Projekten ist aber die Machbarkeit bezüglich Zeit, Logistik und Ökonomie. Welche Teile sind wo, wann und vor allem in welcher Qualität vorhanden? Hält ein Stahlträger das Gewicht, wofür er einmal designt wurde? Viele Fragen sind hier noch ungeklärt. Das alles fordert nichts weniger als ein Umkrempeln des Bauens.

Findet denn in der Baubranche bereits ein Umdenken statt?
Das Bauen ist sehr konservativ. Das liegt daran, dass die Branche sehr lokal und verteilt ist, es gibt zahlreiche Akteure. Solange diese nicht auf dem gleichen Wissensstand sind, gibt es nur einen minimalen Konsens. Zudem kostet diese neue Art des Bauens, da sie noch nicht etabliert ist, derzeit noch mehr Geld. Viele Leute bauen einmal im Leben mit einem begrenzten Budget, da ist man weniger bereit, Experimente zu machen.

Wo steht die Schweiz hier im internationalen Vergleich?
In der Schweiz findet man eine gewisse Risikobereitschaft, neue und innovative Dinge auszuprobieren. Die Schweiz zeichnet sich für mich immer wieder durch private Akteure, Kommunen oder Firmen aus, die versuchen, Grenzen zu verschieben. Und das sowohl im urbanen Raum als auch in ländlichen Gegenden.

Hat das auch mit dem Einfluss der ETH zu tun?
Ja, wir merken ein grosses Interesse, mit der ETH zusammenzuarbeiten, zum Beispiel, um gemeinsam Prototypen umzusetzen. Das Inno­suisse Flagship-Projekt „Think Earth“ zu regenerativem Bauen hat aktuell um die fünfzig Industriepartner, da ist ein Grossteil der Schweizer Branche mit dabei. Wieviel dann tatsächlich im Markt ankommt, ist natürlich individuell. Oft kommen neue Entwicklungen erst ein paar Jahre später zum Einsatz.

Neue Entwicklungen in der Architektur können die Ästhetik beeinflussen.
Ästhetik ist immer eine Frage einer persönlichen Wahrnehmung und auch einer Prägung. Unsere Studierenden sind eine lange Zeit in einer gewissen Richtung geprägt worden, das sollte man sicher hinterfragen. Was man heute schon sieht: Unsere gängigen Vorstellungen der Ästhetik werden sich verschieben.

Wie unterscheiden sich denn die neuen, nachhaltigeren Bauten optisch von den bisherigen?
Wenn man zum Beispiel wiederverwendete Bauteile oder Photovoltaik an der Fassade einsetzt, verändert dies das Aussehen eines Gebäudes. Wenn wir mit möglichst einfachen Bauteilen und Materialien arbeiten, sind gewisse Spannweiten oder Grundrisse nicht möglich, Fensteröffnungen werden kleiner. Und wenn wir vor Hitze schützen müssen, wird die Verschattung an der Fassade relevant, und so weiter. Das sind alles Dinge, die unsere Wahrnehmung von Gebäuden und deren Ästhetik verschieben.

Braucht es da auch einen gesellschaftlichen Willen, um uns an die neue Ästhetik zu gewöhnen?
Ich glaube, das hat viel mit unseren Sehgewohnheiten zu tun. Die meisten Menschen setzen sich nicht aktiv damit auseinander, ob ihnen ein Gebäude gefällt oder nicht. Wenn wir es gewohnt sind, dass unser Nachbarhaus Solarmodule an der Fassade oder Lehmwände hat, dann wird es uns nicht mehr überraschen.

Welche Rolle spielt dabei die Architektur?
Die Architektur ist dafür verantwortlich, Lösungen für die neuen Herausforderungen zu entwickeln und damit auch die Ästhetik weiterzuentwickeln. Nachhaltigkeit wird oft eindimensional mit Verzicht, mit Einschränkung verbunden. Es gibt jedoch sehr schöne Beispiele von Bauten, die dies widerlegen, die etwas Neues zeigen. In der Lehre ist es schwierig, Studierende zu motivieren, wenn man ihnen sagt, was sie alles nicht tun dürfen. Die Frage sollte vielmehr sein: Was ist die Chance dieser Aufgabe, wie sieht ein positives Danach aus?

Ist dieses Umdenken auch Teil Ihrer Vision?
Ja, wir müssen gemeinsam eine positive Zukunftsidee entwickeln, um einen gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. Die Architektur ist ein fantastisches Feld, um das zu tun. Wie und wo können Gebäude und Städte eine lebenswertere Umwelt schaffen, als wenn sie nicht da wären? Wie können sie uns mit erneuerbarer Energie versorgen, uns vor Hitze schützen, wie können sie eine höhere Biodiversität bieten, können sie dazu beitragen, die Luft zu reinigen? Für mich und meine Gruppe sind solche Fragen ein starker Motivator. Es ist keine Utopie, es ist tatsächlich greifbar.

 

Quelle: ETH Zürich/Corinne Johannssen/Karin Köchle
Bildquellen: ETH Zürich/Frederic Meyer

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