Architektur leben: Andrea Deplazes und sein Vermächtnis zwischen Handwerk und Hightech
Der Bündner Architekt und ETH-Professor Andrea Deplazes hat sich in Lehre und Praxis dafür eingesetzt, Entwurf und Konstruktion miteinander zu verschränken.
Mit der Monte Rosa-Hütte in der Nähe von Zermatt wurde er in den Nullerjahren zu einem Vorreiter des nachhaltigen Bauens. Im Juli wird Deplazes emeritiert.
In den Arbeitsräumen der Professur Architektur und Konstruktion wuselt es Ende März gewaltig. 430 Studierende im zweiten Semester besuchen hier gerade die Veranstaltung Entwurf und Konstruktion II, in welcher sie die wichtigsten Grundlagen fürs Architekturstudium lernen. In 15 Studios mit Gruppen von je 28 Studierenden werden Projekte entworfen, die später in einer Schlusskritik beurteilt werden. „Ja, das ist über die Jahre ein ziemlich grosser Laden geworden“, kommentiert Andrea Deplazes vergnügt.
Der Professor für Architektur und Konstruktion hat diesen „Laden“ vor 28 Jahren aufgebaut. Nun findet die Lehrveranstaltung ein letztes Mal unter seiner Leitung statt; Ende Juli wird er emeritiert. Bereits sind die Regale im Grossbüro, das er sich mit seinen Assistierenden teilt, grösstenteils geräumt. Was er beim Aufräumen alles wiedergefunden habe, fliesse in seine Abschiedsvorlesung von Ende April (29.04.25) ein, erzählt er. Wir ziehen uns fürs Gespräch in das mit Vorhängen abgetrennte Separee des Grossbüros zurück, wo eine ganze Wand mit einer Collage des Architekten Bernhard Hoesli tapeziert ist. Ein Vorgänger Deplazes’, der dafür bekannt war, dass er für seine Entwürfe Collagen nutzte. Davor auf dem Boden liegt ein Kartonmodell der Monte Rosa-Hütte. „Bis heute vergeht praktisch kein Monat, in dem ich dieses Projekt nicht irgendwo vorstelle“, sagt Deplazes.
Ein exemplarischer Bau auf 2883 Meter Höhe
Dabei ist dieses Projekt bereits 20 Jahre alt. 2005 feierte die ETH Zürich das 150-Jahre Jubiläum. Zu diesem Anlass initiierte die Hochschule Projekte, die in die Zukunft weisen sollten. „Die NZZ schrieb damals, dass von Architekten an der ETH – diesem Elfenbeinturm – keine konkreten Lösungen für aktuelle Herausforderungen zu Energieversorgung und Nachhaltigkeit zu erwarten seien“, erzählt Deplazes. „Das war eine ziemlich steile Vorlage!“ Den markanten Bau für den Schweizer Alpenclub (SAC), der oft als Kristall bezeichnet wird, entwickelte Deplazes mit dem Studio Monte Rosa, einem Team aus 12 Studierenden. „Jedes Semester haben wir die besten Projektvarianten ausgewählt und weitergezogen, bis am Ende nur noch das stimmigste Projekt übrigblieb.“ Für die extremen Bedingungen auf fast 2900 Meter Höhe entwickelte das Studio eine Art Wärmefalle. Ein Fensterband in der Fassade lässt viel Licht und Wärme ins Gebäude. Das Treppenhaus dient als spiralförmiger Kanal, in dem die Luft durch Sonneneinstrahlung aufgeheizt wird. Sie steigt auf und verteilt sich in den einzelnen Räumen. Mit einfacher Lüftungstechnik wird auch die Abluft über einen Wärmetauscher genutzt. Die Form der mit Photovoltaik bestückten Fassade ist so gestaltet, dass sie dem Sonnenlauf von morgen bis Abend folgt.
Die „Hütte“, ein fünfgeschossiger Holzbau aus vorfabrizierten Rahmenelementen, ist heute weitgehend autark und deckt ihren Energiebedarf selbst. „Ich habe mich immer für Projekte interessiert, die die Qualität eines Fallbeispiels haben; die also eine exemplarische Aussage machen, die über ein bestimmtes Projekt hinausreicht“, erzählt Deplazes.
Von Wörtern zum Raum
Die Familie Deplazes kommt ursprünglich aus Brigels, einem Dorf in der Bündner Region Surselva. Der Sohn Andrea wuchs in Chur auf, besuchte dort das Gymnasium und interessierte sich vor allem für Sprachen, Semiotik und die Bücher von Umberto Eco. Das Gymnasium eröffnete ihm neue Denkwelten und den Zugang zu einem Hochschulstudium. „Das war für meine Familie damals alles andere als selbstverständlich“, erinnert er sich.
Weshalb er sich gerade für ein Architekturstudium an der ETH Zürich entschied, weiss er nicht mehr genau, aber an den Eröffnungstag kann er sich noch bestens erinnern: Der damalige Vorsteher des Departements, Dolf Schneebeli, habe die Studierenden empfangen und erzählt, dass er sich, wenn er nochmals die Wahl hätte, wieder für den Beruf des Architekten entscheiden würde. Schon nur deswegen, weil man auf den Baustellen mit den Gastarbeitern Italienisch sprechen könne. „Da wusste ich, dass ich am richtigen Ort gelandet war.“ Im Gespräch zieht Deplazes immer wieder Parallelen zwischen Architektur und Sprache. Er sei früh fasziniert gewesen vom architektonischen Projekt und von der Beweisführung; wie man von einer Idee zum baulichen Resultat gelange. Wie also aus Wörtern gebauter Raum wird.
Während des Studiums habe er zeitweise auf dem Hönggerberg gelebt, erzählt Deplazes. „Um 22 Uhr fuhr der letzte Bus in die Stadt. Wenn wir diesen verpassten, schliefen wir oft unter den Tischen am Institut.“ Sein Praktikum absolviert er im Architekturbüro von Peter Zumthor in Haldenstein in der Nähe von Chur. Dort lernte er auch Valentin Bearth kennen, den späteren Geschäftspartner für das eigene Büro Bearth & Deplazes.
Ausgewählte Werke von Andrea Deplazes
Die beiden teilten grundsätzliche Werte, hatten bei architektonischen Fragen aber oft unterschiedliche Meinungen. „Wir stritten und suchten stets nach besseren Argumenten und der besten Lösung. Dabei entstand dieser Spannungsraum, der für gute Architektur zentral ist.“ Bis heute laute die zentrale Frage bei gemeinsamen Projekten: Ist das Projekt radikal genug; haben wir wirklich die beste aller möglichen Lösungen gefunden?
Deplazes hätte nach Abschluss seines Studiums bei Peter Zumthor bleiben können, doch er entschied sich für die Selbständigkeit. Denn in der Zwischenzeit, noch während seiner Diplomarbeit, hatte er mit Valentin Bearth bereits einen Wettbewerb für eine Schulhauserweiterung in Alvaschein gewonnen. „Mit einer Holzbaukonstruktion, was damals noch sehr ungewöhnlich war.“
„Es hätte auch schiefgehen können“
Deplazes hatte nie geplant, selbst Architektur zu lehren – bis ihn sein Umfeld dazu motivierte, sich für eine ETH-Professur zu bewerben. Im April 1997 wurde er für das Vorstellungsgespräch eingeladen, im Mai zum Präsidentengespräch und im Juli fiel der Entscheid des ETH-Rats. Danach hatte er noch genau zwei Monate Zeit, um sich vorzubereiten, bis 189 Studierende vor der Türe stehen sollten. „Ich hatte weder ein Team noch eine Vorlesung oder Übungen“, erinnert sich Deplazes. „Das hätte auch ziemlich schief gehen können, aber ich habe damals gelernt zu improvisieren.“ Von Anfang an hatte er einen starken architektonischen Leitgedanken: Der Entwurf, also das Erarbeiten von Ideen für einen bestimmten räumlichen Kontext, und die Konstruktion, die Beweisführung für die bauliche Umsetzung, müssen unbedingt als Einheit vermittelt werden. „Der Entwurf gilt den meisten Studierenden als kreative Kür und die Konstruktion als technische Pflicht. Dabei kann Konstruktion unglaublich spannend und auch emotional sein.“ Deplazes kritisiert ein „Fachtrotteltum“, bei dem technische Herausforderungen in der Architektur einfach an Fachspezialisten wegdelegiert würden. „Das ist der Tod unserer Disziplin.“
Als er damals seinen Kurs in Entwurf und Konstruktion vorbereitete, fehlte das entsprechende Lernmaterial. Dasjenige aus der Bautechnik war zu technisch und spröde und richtete sich vor allem an Ingenieure. „Was mir fehlte, war die direkte dialektische Verknüpfung von Ideen und Hypothesen auf der einen Seite und deren Übersetzung in ein Resultat auf der anderen.“ Aus Ordnern voller selbst entwickeltem Lehrstoff entstand 2005 das Lehrbuch „Architektur konstruieren – Vom Rohmaterial zum Bauwerk“, das seither in acht Sprachen übersetzt worden ist, in der siebten Auflage vorliegt, und sich als Lehrbuch an Hochschulen weltweit etabliert hat. Für Deplazes hat diese enge Verzahnung von Entwurf und Konstruktion auch mit Respekt gegenüber dem Handwerk zu tun. „Egal ob Fensterbauer, Zimmermänner oder Maurer – in der Schweiz gibt es eine unglaubliche Vielfalt an hochqualifizierten Handwerksbetrieben mit riesigem Knowhow“, erzählt er. „Als Architekten müssen wir diese Vielfalt pflegen und unterstützen.“
Potenzial der digitalen Technologien
Tradition und High-Tech sind für Deplazes trotzdem keine Widersprüche. Er hat früh Roboter in Entwurf und Konstruktion integriert. Bekannt ist unter anderem der Neubau für das Weingut Gantenbein in Fläsch, mit Fassaden aus durchbrochenem und verdrehtem Mauerwerk, das mithilfe von Robotern und in Zusammenarbeit mit den Kollegen Fabio Gramazio und Matthias Kohler angefertigt wurde. Auch in VR-Brillen und der „augmented reality“, bei welcher die reale Sicht mit virtuellen Elementen angereichert wird, sieht er grosse Chancen. „Kleinunternehmen können so auch mit ungelernten Arbeitern komplexe Aufgaben erledigen. Das macht sie konkurrenzfähig zu hoch technisierten Betrieben“
Zugleich sieht er ein grosses Potenzial für Länder, in welchen informelles Bauen die Norm ist, wie zum Beispiel in Kolumbien, wo er zuletzt auf Studienreise war. „Statt grosse Bauindustrien aufzubauen, könnten solche Technologien auch in den Barrios als Werkzeug genutzt werden, um die Menschen vor Ort zu befähigen, ihre Häuser stabiler, dauerhafter und klüger zu bauen.“
Digitale Technologien stehen auch im Zentrum von Deplazes Zukunftsprojekt. Gemeinsam mit dem spanischen Architekten Francisco Mangado Beloqui baut er aktuell das „Centro National“ in Pamplona auf. Studienabgänger sollen in dieser privaten Architekturschule während zwei Jahren vertieft in allen wichtigen digitalen Technologien geschult werden, darunter augmented reality, Robotik und KI.
Porträt von Andrea Deplazes
„Um architektonische Exzellenz zu erreichen, müssen junge Architektinnen und Architekten diese digitalen Werkzeuge kennen, allerdings sind sie an sich noch keine Garantie dafür.“
Andrea Deplazes
Die Studierenden werden an konkreten Aufgaben von Bauträgern arbeiten, die für das öffentliche Bauwesen in Spanien verantwortlich sind, und mit der Bauindustrie zusammenarbeiten. „Wie damals bei der Monte Rosa-Hütte werden jeweils vier Studios an einer konkreten Case-study arbeiten und dieses Projekt über mehrere Semester hinweg bis zur Baubewilligungsreife entwickeln.“ Der Schule angehängt ist ein Büro, in dem die Projekte anschliessend bis zur Ausführungsreife fertig geplant werden – teils von den Studienabgängerinnen selbst, die dort ihren ersten Job finden, so die Idee. Das Centro soll exemplarisch für die Architekturausbildung der Zukunft werden.
Deplazes wird ab Sommer zwischen seinem eigenen Büro in Chur und dem Centro National in Pamplona pendeln, wo er weiterhin unterrichten wird. „Ich kann kein Golf spielen, also muss ich mich nach meiner Pensionierung anderweitig betätigen“, witzelt er. Anfang April hat eine spanische Delegation von Politikerinnen und Wirtschaftsvertretern das Institut für Technologie in der Architektur (ITA) auf dem Hönggerberg besucht, das als Blaupause für das Ausbildungsangebot dient. Bei dieser Gelegenheit hat Deplazes das Monte Rosa-Projekt erneut präsentiert. Es fasziniert bis heute – auch wenn sein Schöpfer schon längst ganz woanders ist.
Abschiedsvorlesung
Am Dienstag, 29. April um 17.15 Uhr hält Professor Andrea Deplazes seine Abschiedsvorlesung mit dem Titel „Aufgebot zur Hausdurchsuchung“ im Auditorium Maximum, ETH-Hauptgebäude, Rämistr. 101. Zürich.
Die Veranstaltung wird live gestreamt.
Quelle: RTH Zürich
Bildquellen: Bild 1: Daniel Winkler / ETH Zürich; Bild 2: Symbolbild ©